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DON JUAN
EIN PSYCHOANALYTISCHES ESSAY
DEVID KESLER
" Schon gut, lesen sie die Briefe. Aber vorher müssen
sie mir an Eides statt versprechen, nie die wahren Namen zu
verraten, das könnte einen Schatten auf das spanische
Königreich werfen, ebenso auf das französische und auf das
italienische."
Ich schwor und fragte dann: "Wie haben sie die Briefe
bekommen?"
Das Gesicht des Bibliothekars verwandelte sich. Er wurde dem
Wissenschaftler ähnlich, der alles über die Entstehung der
Welt weiß und endlich jemanden traf, dem er seine
Entdeckung mitteilen könne.
" Es ist eine merkwürdige Geschichte. Nach Don Juans
Tod war das Haus wegen hoher Schulden unter den Hammer
gekommen. Leporello, dem Diener, war es gelungen, die Degen
und den Mantel von Don Juan zu retten. Er hat auch einen
Stapel Briefe gerettet, der mit zwei Haarsträhnen
zusammengehalten wurde, durch mit fast schwarzen und quer
mit, blonden. Leporello kehrte nach Italien zurück, wo er
wegen Geldmangels die Degen und den Mantel verkaufen musste.
Als Erinnerung waren ihm nur die Briefe geblieben. Nach
seinem Tod blieben die Briefe bei seinem Neffen, der sie,
ohne sie zu lesen, in einen Koffer zusammen mit allerlei
Lappen gepackt und auf dem Boden verborgen hatte. So sind
die Briefe von einem zum anderen Nachfolger gewandert. Aber
niemand hat sie je gelesen. Vor einigen Jahren wurden die
Briefe dann von einem von Leporellos Nachfolgern entdeckt
und in meine Bibliothek gebracht, ohne zu wissen, welchen
Schatz er besessen hatte. Das Briefpapier war fast
verrottet, und ich habe zwei Jahre verbracht, die Briefe zu
restaurieren und abzuschreiben. Lesen sie die Briefe und
bilden sie sich ihre eigene Meinung. Ich möchte sie nicht
drängen. Vergessen sie aber ihr Versprechen nicht."
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