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BOLERO VON RAVEL
Devid Kesler
Es fing an zu regnen. Ich hatte keinen Schirm dabei und lief unter das
nächste Dach. Auf der anderen Straßenseite sah ich Plakate,
aus denen ich ersah, dass eine Ausstellung eines Malers stattfand. Der
Name des Malers sagte mir nichts. Doch die Plakate schienen mir interessant.
Alles was ich im Ausstellungsaal sah, verwunderte mich sehr. Das, was
auf den Bildern dargestellt war, bewegte sich, schien fast lebendig.
Die Farben waren hell, ihre Kombination völlig unerwartet. Die
Bilder waren sinn- und gefühlvoll, und ich bewunderte immer wieder
die Vorstellungskraft und Phantasie des Malers. Der Maler wollte offensichtlich
keineswegs Weltberühmten nachahmen. Alles, was er machte, war ganz
sein Eigenes. Ich fand schließlich auch den Maler. Er schien müde
und stand da, wie ein Märtyrer, umgeben von drei oder vier Paaren.
Erst wollte auch ich zu dem Maler gehen, verwarf aber diese Idee, da
ich sehen konnte, dass jede seiner Antwort ihm viel Mühe kostete.
Schließlich war es Zeit, die Ausstellung zu verlassen, um so mehr,
da es nicht mehr regnete.
Kopenhagen ist eine wunderschöne Stadt, Klein Paris, und mir gefällt
es spazieren zu gehen, ohne Ziel, einfach so, nur um die Atmosphäre
zu spüren. Dieses Mal hatte ich aber keine Lust. Vor meinen Augen
standen die Bilder aus der Ausstellung. Ich lief durch die Stadt, und
plötzlich bekam ich Hunger. Der Hunger war so stark, dass ich dachte,
wenn ich jetzt, in dieser Minute, nicht esse würde, müsse
ich sterben. Ich ging in ein Café am Rathausplatz. Ich fand einen
leeren Tisch, bestellte eine Mahlzeit und begann süchtig zu essen.
In diesem Moment schien es mir, als sei ich nicht nur zum Essen hierher
gekommen, als müsse etwas besonderes passieren. Ich beendete bereits
mein Essen, aber nichts passierte. Doch dann kam ein Mann zu meinem
Tisch und setzte sich mir gegenüber. Sein Gesicht schien mir bekannt,
aber ich konnte mich nicht erinnern, wo ich ihn schon mal gesehen haben
könnte. In Kopenhagen ist alles möglich, es ist die Stadt
des Déjà-vu. Nur von Zeit zu Zeit schaute ich ihn an.
Mir schien , dass auch er versuchte, sich zu erinnern, wo er mich getroffen
haben könne.
- Sie waren, meiner Erinnerung nach, in meiner Ausstellung. Wie jeder
Maler habe auch ich ein gutes visuelles Gedächtnis, - sagte er
plötzlich.
- Jetzt kann ich mich auch an sie erinnern , - antwortete ich.
- Sagen sie bitte, aber ganz ehrlich, - bat er vorsichtig, - ob ihnen
die Bilder gefallen haben.
- Ja, sehr. Ich glaube schon, sie sind ein sehr begabter Maler, - bestätigte
ich.
- Andere sind ganz anderer Meinung. Die Ausstellung wird so gut wie
nie besucht.
Wir schwiegen eine Weile.
- Welches Bild hat ihnen am besten gefallen? - wollte er wissen.
- Bolero von Ravel, - antwortete ich ohne Zögern. - Die anderen
auch . Doch Bolero hat mir am besten gefallen.
- Es ist auch mein liebstes Bild. Damit hat alles angefangen, - nickte
er.
"Ich zeichne von Kind an. Meine Lehrer aus der Malschule hielten
mich für einen begabten Zeichner. Aber ich war unzufrieden, ich
wollte Ölbilder malen. Ich versuchte, in verschiedenen Stilen zu
arbeiten, vom klassischen bis abstrakten. Ich wollte etwas Eigenes,
Originelles machen. Doch das konnte ich nicht. Ich war niedergeschlagen,
wollte überhaupt nicht mehr malen. Aber ich konnte nicht aufhören
zu malen.
Eines Tages verließ ich die Wohnung, und mischte mich unter Passanten
auf der Straße. Ich fühlte mich sehr einsam und wollte unter
Menschen sein. Plötzlich bemerkte ich, dass die Strassen sich leerten.
Ich schaute zum Himmel. Eine schwarze Wolke kam mit großer Geschwindigkeit
auf mich zu. Sie war so dunkel, dass die Kirche an der Ecke, die immer
dunkel , fast schwarz war, jetzt hell aussah vor dem Hintergrund der
Wolke. Der Sturm trieb mich irgendwie in das Café, wo wir uns
jetzt befinden.
Die Atmosphäre wirkte jedoch bedrückend, die Besucher saßen
still. Draußen tobte der Wind. Ehe ich ein Bier ausgetrunken hatte,
ging das Licht aus. Die Besucher schrien auf vor Angst. Der Wirt und
die Diener kamen mit Kerzen.
- Nehmen wir würdig das Ende der Welt hin, - sagte der Wirt und
fuhr fort, - Wir haben die passenden Kerzen für diese Gelegenheit
ausgesucht.
In jedem Halter waren drei Kerzen - eine leuchtete mit rotem, zwei andere
mit grünem Licht. Die Gesichter der Besucher wandelten sich, sie
ähnelten jetzt Leichen, die das Höllenfeuer beleuchtet. Wieder
ertönten Schreie und die Bitte, die Kerzen wegzunehmen. Doch die
Diener lächelten nur. Plötzlich veränderte sich etwas
im Café. Es trat absolute Stille ein. Nicht einer verstand, was
passiert war. Es war der Wind, der so rasch aufhörte , wie er begonnen
hatte. Das elektrische Licht brannte wieder und alle wurden gelöster.
Aber ich entschloß mich, das Café zu verlassen. Als ich
schon am Ausgang war, erlosch das Licht wieder. Doch ich war schon draußen,
auf dem Platz.
Der Platz war dunkel und leer, nicht ein Mensch war da, nicht ein Auto,
nicht eine funktionierende Laterne erhellte die Dunkelheit. Irgendwoher
von oben kam ein Trommelwirbel. Ich schaute dorthin. Über dem Platz
hing der Vollmond, auf dem saß der Mondhase. Auf seinen Knien
war eine Trommel, und der Hase trommelte einen komischen, unregelmäßigen
Rhythmus, der mir schon bekannt schien. Aber mich erinnern, wo ich den
Rhythmus schon gehört hatte, konnte ich nicht. Meine Nerven waren
zu angespannt.
Auf dem Platz war ich doch nicht ganz allein. Fern von mir bemerkte
ich einige Schatten, die sich in meine Richtung bewegten. Ich lief ihnen
entgegen, fühlte mich wirklich sehr ungemütlich und einsam
auf dem kaum beleuchteten Platz. Diese Schatten erwiesen sich als junge
Frauen in langen, halb durchsichtigen Kleidern. Sie bewegten sich fast
unhörbar, sie schwebten fast, was sie ähnlich den Schatten
aus La Bayadere oder Wilis aus Giselle erscheinen ließ. Die Frauen,
sich einander an den Händen fassend, umkreisten mich , liefen dann
von mir weg und kamen wieder zurück. In den Händen von einer
erschien ein Tuch, auch so halb durchsichtig, wie ihre Kleider, damit
sie meine Augen verbanden. Sie schlug mir vor, mit ihnen Verstecken
zu spielen. Ich lief hinter den Frauen her, um so mehr, weil das Tuch
halb durchsichtig war und ich ihre Silhouette sehen konnte. Aber lange
Zeit konnte ich nicht eine fangen. Endlich fing ich eine, doch als ich
sie ergriff, verdampfte sie. Ja, einfach so. Sie verschwand, als ob
sie nie existierte. Einfach verdampft war sie, und nur ihr Kleid blieb
in meinen Händen. Ich war so verwirrt, dass ich lange bewegungslos
dastand. Doch die anderen Frauen lachten nur und schlugen mir vor, weiter
zu spielen. Ich lief hinter einer anderen her. Aber die verschwand genau
so wie die erste als ich sie fing und hinterließ mir auch nur
ihr Kleid. Schließlich blieb nur eine übrig. Sie kam zu mir
mit weit ausgebreiteten Armen, fast lief sie. Mein Herz klopfte. Ich
riß mir das Tuch von den Augen und rannte ihr entgegen. Wir umarmten
uns. Ich wollte sie küssen, begriff aber, dass ich nur ihr Kleid
umarmte. Meine Laune sank schlagartig, und entschloß ich mich,
so schnell wie möglich nach Hause zu gehen.
Auf dem Platz lief ein Mann hin und her. Als er mich sah, eilte er mir
entgegen. Es war ein Japaner in einem dunklen Kimono mit weißen
und roten Mustern. Er weinte. Dicke Tränen flossen über seine
Wangen. Mit flehenden Armen wandte er sich zu mir und sprach auf japanisch.
Wundersamerweise verstand ich ihn gut.
- Helfen sie mir bitte! Ich weiß nicht, wo ich mich befinde, -
flehte er verzweifelt.
- Haben sie sich verlaufen? Machen sie sich keine Sorgen, ich helfe
ihnen. Ich lebe schon immer in Kopenhagen, und wenn sie mir sagen, wohin
sie wollen, erkläre ich es ihnen und begleite sie dorthin, - sagte
ich auch auf japanisch.
Ich schwöre, davor konnte ich kein japanisches Wort.
- Ich bin ganz verloren, ohne Familie, ohne Arbeit, ohne Geld. - Er
reagierte nicht auf mich .
Ich nahm Geld aus meinen Taschen, alles, was ich dabei hatte, und gab
es ihm.
- Ich war glücklich, - fuhr er fort. Mir schien es so, als ob er
mich nicht sah. - Ich hatte eine Familie, das Haus, die gute Arbeit.
Einmal schenkte mir mein Freund Manschettenknöpfe mit Amethysten
zum Geburtstag. Kurz drauf verließ mich meine Frau, dann verschwanden
die Kinder, mir wurde gekündigt, und zum Schluss brannte mein Haus
ab. Und nun bin ich hier, in einer unbekannten Stadt, ich weiß
nicht einmal, wie ich hierhin gekommen bin. Ich bin ganz sicher, dass
die Amethyste schuld daran sind.
Ich drehte mich nach einem Geräusch , in der Nähe von uns.
In wildem Tanz sprang ein anderer Japaner in beschmutztem Kimono und
mit einem Schwert in der Hand umher, zweifellos ein Räuber. Vor
ihm kniete eine Frau, und man konnte sehen, dass sie ihn beschwor, sie
nicht zu töten. Aber er sprang um sie herum und genoss offensichtlich
ihre Todesangst. Der Räuber packte die Frau an den Haaren, stiess
das Schwert in ihren Bauch und setzte seinen wilden Tanz fort. Ich begriff
alles.
- Schauen sie, - erklärte ich "meinem" Japaner. - Sie
büßen doch für die Sünden dieses Mannes. Ihr Leben
ist sein nachfolgendes Dasein, und alles, was mit ihnen passierte, ist
die Bezahlung für seine Sünden. Ich bin sicher, dass es die
Ursache ihres Unglücks ist. Ihre Amethyste haben damit nichts zu
tun.
"Mein" Japaner guckte in diese Richtung . Seine vorher schon
schmalen Augen wurden vor Wut noch schmaler.
- Das ist doch Akiro Kazawa, unser Nationalheld. Sicher war er war ein
Räuber, hat viele Menschen getötet, wurde verhaftet und hingerichtet.
Aber er war doch ein mutiger Mann, sogar Samurais fürchteten sich
vor ihn. Unser Volk denkt an ihn, es gibt viele Lieder über ihn.
- Er schaute mich bedauernd an. - Sie, als Europäer verstehen unsere
japanische Seele nicht.
Er kniete sich auf japanische Art nieder und verbeugte sich.
- Grosse Götter, ich danke Euch dafür, dass das nachfolgende
Leben Akiro Kazawas in meinen Körper eindrang. Nun werde auch ich
ein großer und mutiger Held, wie er es war, und alle Leute werden
mich fürchten und verehren. Ich rechne schon mit meinen Feinden
ab. Und er ging weg, ohne sich umzudrehen.
- Geh nach Hause. Warum bist du noch da? - sagte ich vor mich hin.
- O, der Zuschauer ist schon da! - hörte ich eine lustige Stimme.
Ich sah Pferde, geschmückt mit Sultane, Wohnwagen mit Werbeplakaten:
"Der Circus ist da!" und Käfige mit exotischen Tieren.
Dazwischen gingen Clowns und Orchesterleute mit ihren Instrumenten.
- Wir freuen uns, sie bei uns zu sehen. Sie sehen jetzt ein merkwürdiges
Schauspiel, wie sie es nie zuvor gesehen haben, - sagte der Circusdirektor,
- Jongleure, Clowns und selbstverständlich dressierte Tiere!
Aus den Wohnwagen sprangen Schauspieler, die schnell das Zelt montierten,
und das Schauspiel begann. Die Jongleure hantierten mit brennenden Keulen.
Seiltänzer gingen auf dem Seil. Akrobaten trieben merkwürdigen
Hokuspokus. Dann kam der Dompteur in schwarzem Frack und mit Zylinderhut,
blieb vor hohen Sockeln stehen, auf denen schwarze Panther und Seelöwen
saßen, und schwang die Peitsche. Plötzlich sträubte
eine Pantherin die Haare, und mit graziösen Sprung, wie es nur
Panther können, flog sie in meine Richtung.
- Jetzt zerreißt sie mich, - dachte ich.
Aber die Pantherin sank neben mich, begann um mich herumzugehen, bald
mit einer, bald mit der anderen Körperseite an meinen Beinen vorbei
zu streichen und zu schnurren. Sie war so liebevoll, so zärtlich,
dass ich mich traute, sie zu streicheln. Die Pantherin fuhr zurück,
ihre Augen wurden wütend grün, ihre Fellhaare standen zu Berge.
Sie öffnete das Maul und zeigte mir die riesigen gelben Hauer.
Ich zuckte vor Angst zusammen. Doch die schlechte Laune der Pantherin
verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Sie lächelte mir zu
und ging weg, schwankend kokett mit den Hüften schwingend.
Bald kam der Seelöwe zu mir.
- Verzeihen sie bitte der dummen Pantherin, - sagte er. - Zeigen sie
ihr keine Aufmerksamkeit. Pantherinnen sind wie Frauen. Sie möchten
geliebt werden. Aber wenn einer sie liebt, werden sie wütend und
verlassen ihn, ohne sich zu verabschieden. Seien sie nicht traurig.
Auch er ging weg, mir mit der Flosse zum Abschied winkend.
- Das Schauspiel ist beendet, - verkündete der Circusdirektor.
- Sicher hat es ihnen gefallen. Kommen sie wieder, wir freuen uns immer
darauf.
- Warum bist du noch da? Was schlecht angefangen hat, kann nicht gut
enden, - sagte ich wieder zu mir selbst und schlenderte in Richtung
Nachhause.
Aber ich konnte keinen Schritt weitergehen. Der Platz war mit Toten
bedeckt. Sie lagen so dicht beieinander, dass es unmöglich war,
zwischen ihnen durchzugehen. Sie lagen durcheinander, Männer, Frauen,
Kinder. Unter dem leblosen Vollmondlicht sah es aus, wie auf einem Schlachtfeld
nach der Schlacht. Entsetzt zog ich mich zurück. Eine Gruppe junger
Frauen auf Schlittschuhen, in farbigen Jacken und kurzen Röcken
trat auf den Platz, wie zu einem Kunstwettbewerb. Sie fuhren um die
Leichen herum, hoben die Köpfe der Toten, küssten sie auf
den Mund, und mit jedem Kuss wurden die Toten wieder lebendig. Bald
war der Platz von lebenden Menschen voll, die den Frauen auf Schlittschuhen
salutierten. Sie brachten ein Siegerpodest, auf das drei Frauen in Schlittschuhen
stiegen, mit Blumensträußen winkten, die sie von Mädchen
in Nationalkleidern bekamen. Die Menge applaudierte. Überraschend
erschienen auf dem Platz drei Männer. Ihre engen schwarzroten Anzüge
und schwarzen Käppchen mit drei Hörnern und mit Glocken machten
sie mittelalterlichen Narren ähnlich. Die Männer schoben einen
Rollstuhl, auf dem ein Alter in einem weißen Mantel und einen
Hütchen saß. Die Männer vertrieben die Frauen in Schlittschuhen
von dem Podest, und stellten darauf den Rollstuhl mit dem Alten, der
mit zahnlosem Mund Gebete flüsterte und mit einem mit Edelsteinen
geschmückten Stab die Menschenmenge segnete. Ein Mann, der nahe
vor dem Alten stand, küßte in religiöser Ekstase die
Hand mit dem riesigen blutroten Rubin auf dem Finger des Alten, und
fiel dann tot hintenüber. Nach ihm kam ein zweiter, dritter, vierter
Mann, und auch sie alle starben auf die gleiche Weise. Aber das hielt
die anderen nicht auf. Auch sie kamen zu dem Alten in einer langen Reihe.
Die drei Männer zogen die Toten an den Beinen weg, um den Weg für
die folgenden frei zu machen. In kürzer Zeit war der Platz wieder
mit Toten bedeckt. Der Alte stand aus dem Rollstuhl auf und lachte laut
auf. Er wurde wieder jung, trug nun Spitzbart, war fast nackt. Nur ein
roter Mantel bedeckte seinen muskulösen Körper.
- Mephistopheles! - staunte ich.
- Geh schnell nach Hause, solange du noch am Leben bist. Diese Nacht
bringt dir nichts Gutes, - sagte ich laut zu mir selbst. Mir schien,
das würde mir helfen, den verdammten Platz zu verlassen.
Der Weg war aber mit einer Prozession versperrt, die aus der Querstrasse
kam, einer mystischen, gespenstischen Prozession. Die Teilnehmer gingen
zu zweit. Es waren gleich gekleidete Menschen, in langen grauen Kutten
und Kapuzen, die ihre Gesichter verbargen. Sie trugen ein langes Etwas,
das in Lappen eingepackt war. Als sie die Mitte des Platzes erreichten,
legten sie es vorsichtig auf den Boden, teilten sich auf in zwei Gruppen
und begannen zu tanzen. Ja, zu tanzen. Ich hätte alles von ihnen
erwartet, aber keinen Tanz. Ich bin ein schlechter Kenner von Tanzarten.
Aber mir schien, dass sie etwas Uraltes tanzten. Sarabande oder Menuette
oder Polonaise, könnten es auch sein. Auf jeden Fall machten sie
komplizierte Schritte, hockten sich hin, überkreuzten ihre Füße
und drehten sich um. Da sie alle gleich gekleidet und gleich gewachsen,
ihre Gesichter von Kapuzen verborgen waren, war unmöglich festzustellen,
welche von ihnen Männer und welche Frauen waren. Aber es gab eine
klare Rollenverteilung, manche tanzten Männer-, andere Frauenrollen.
Während eines bestimmten Tanzschrittes rissen sie sich gleichzeitig
die Kapuzen ab. Statt Gesichtern schauten mich Schädel an! Ich
war tief beeindruckt. Mir schien sogar, dass ich träumte. Ich kniff
mich sogar in die Nase, aber ich schlief nicht. Alles war Wirklichkeit.
Der Tanz hörte auf. Die Menschen kamen zu dem Etwas auf dem Boden
in der Platzmitte und begannen, die Lappen abzurollen. Ich sah einen
Mann, der bewegungslos dalag. Die Gestalten in den Kutten knieten sich
vor ihm nieder und machten geheimnisvolle Gesten. Der Mann bewegte sich,
stand schließlich auf. Sein Benehmen, seine Gestalt, und seine
Kleidung unterschieden sich vollkommen von denen in den Kutten. Er ging
von einem zum anderen, als ob er jemanden suchen würde. Er schaute
umher, und ich sah seine Blicke auf mich gerichtet. Ich erstarrte. Es
war mein Doppelgänger! Er erblickte mich. Sein Gesicht wurde böse.
Mit blutunterlaufenen Augen lief er auf mich zu. Ich versuchte, mich
zurückzuziehen, aber mein Ebenbild, das offensichtlich in mir den
lange schon gesuchten und endlich gefundenen Feind sah, stürzte
sich auf mich. Ich wollte ihm erklären, dass wir uns nicht kennen,
uns das erste Mal treffen, und er mich für einen anderen halte.
Ich begriff aber schnell, dass meine Erklärungsversuche vergeblich
waren. Seine wahnsinnigen Augen drückten aus, dass er sowieso nichts
begreifen würde. Doch ich hatte keinen Wunsch, mich mit ihm zu
schlagen. Ich glaubte, dass er psychisch krank sei, und wollte mich
zwischen den Menschen in den Kutten verbergen. Mein, mir gleichender
Angreifer versuchte, mich auf die Erde zu drücken. Er wollte zuschlagen,
richtig zuschlagen, ernsthaft. Ich lief weg, er lief mir nach. Ich bin
wütend geworden und fing an, mich zu verteidigen. Das hatte ihn
vielleicht so erschrocken, dass daraufhin er versuchte, sich unter den
Menschen in den Kutten unterzutauchen. Diesmal lief ich ihm nach. So
rannten wir einige Zeit hintereinander her. Plötzlich verlor ich
meinen Orientierungspunkt, und wußte nicht mehr, wer von uns beiden
ich oder er war; denn wir waren ja offensichtlich Doppelgänger.
Mir schien, dass auch er uns beide nicht unterscheiden konnte und sich
sichtlich genauso verloren fühlte. Wir wiederholten unsere schreckliche
Schlägerei. Einer von uns, ich weiß nicht mehr, ob er, oder
ob ich es war, drückte den anderen auf die Erde und begann ihn
zu würgen. Ich glaube schon, dass ich es war, der ihn erwürgte.
Woher hatte ich nur die Kraft dazu bekommen? Meine Finger wurden eisenfest
und drückten seinen Hals kräftiger und kräftiger zu.
Er versuchte, mir zu widerstehen, wurde aber immer schwächer und
rührte sich schließlich nicht mehr. Er war tot.
In diesem Moment begriff ich, welchen Rhythmus die Trommel des Mondhases
wirbelte.
- Das ist doch der Bolero von Ravel! Wieso hatte ich mich daran nicht
erinnern können? - dachte ich und ging schwankend nach Hause.
Die Fenster meiner Wohnung waren weit auf. Die Wohnung wurde von einem
komischen Licht erhellt. Ich lehnte mich aus dem Fenster hinaus. Die
Strasse war dunkel, nur die Reklame gegenüber strahlten in diesem
seltsamen Licht. Ich machte die Fenster zu, ging zur Staffelei und fing
an, den Eindruck der Nacht auf die Leinwand zu skizzieren. Ich malte
pausenlos den ganzen Tag ohne Essen und Trinken. Um das Bild fertig
zu machen, brauchte ich etwa eine Woche. Ich nannte es Bolero von Ravel.
Danach malte ich die anderen Bilde, die Sie auf der Ausstellung schon
gesehen haben, ohne große Mühe. Ich denke, dass alles, was
tief in meiner Seele verborgen gewesen war, auf die Leinwand schwappte.
Doch meine Bilder gefallen niemanden. Ich kann aber nicht aufhören
zu malen. Mir ist, als müsse ich sonst sterben.
Er sah mich aufmerksam an und fuhr fort.
- Ich vertraue ihnen und sage, was ich noch niemandem gesagt habe. -
Er beugte sich über den Tisch und wisperte: - Manchmal scheint
es mir, dass nicht ich ihn, sondern er mich getötet hat. Und jetzt
malt er meine Bilder."
Ein paar Jahre später erfuhr ich, dass er sich umgebracht hatte.
In seinem Abschiedsbrief stand: "Ich kann nicht mehr unter Menschen
leben, die mich nicht verstehen".
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